Ruedi Günthardt wuchs in den 1930er und 1940er Jahren im zürcherischen Küsnacht in der elterlichen Holz-, Öl- und Kohlehandlung mit Fuhrhalterei auf. Es war die harte Zeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Die Männer im Erwerbsalter mussten Aktivdienst leisten, sodass der kleine Ruedi im Haus und im Betrieb schon früh Hand anlegen musste. Knochenarbeit, die dazu führte, dass er abgemagert und geschwächt im frühen Jugendalter auf ärztliche Verordnung hin zur Erholung nach Davos geschickt wurde.
Frühe Wegbegleiter
Nichts deutete damals darauf hin, dass Ruedi dereinst zu einem der erfolgreichsten Schweizer Reiter in der «Military», wie das Eventing damals genannt wurde, werden würde. Aber die Pferde waren nebst vielen anderen Tieren natürlich fester Bestandteil des Haushalts und der Fuhrhalterei und Ruedi schon immer ein absoluter Pferdenarr.
So erlernte Ruedi die Grundlagen der Reiterei auf Ausritten in Begleitung seines Vaters. Im Winter durfte er jeweils die Reitkurse der umliegenden Vereine – des Kavallerievereins Zürichsee rechtes Ufer, des Kavallerievereins Zürich und Umgebung sowie der Reitgesellschaft Wiedikon – besuchen, sei es bei Heinrich von Grebel in Stäfa oder bei Wolfang Niggli, Hans Syz und Robert Ober in der Militär-Reithalle in der Stadt Zürich. Ruedi Günthardt erinnert sich: «Ich bin damals zu den Reitkursen geritten. Die Kurse fanden abends statt, tagsüber lieferten die Pferde am Wagen Kohle aus. Nach dem Arbeitstag ritt ich also eine Stunde zur Reithalle hin, absolvierte den strengen Unterricht, und ritt wieder eine Stunde nach Hause.» Seine eigene Fitness trainierte er überdies in den wöchentlichen Turnstunden der örtlichen Jugendriege.
Die entscheidende Wende kam dann, als Ruedi Günthardt die Kavallerie-Rekrutenschule absolvieren durfte – sein Bettnachbar in der Kaserne in Aarau war kein minderer als der Springreiter Paul Weier. Es entstand eine Kameradschaft, welche die beiden bis heute verbindet.
Atbara
Nach Abschluss der Rekrutenschule erhielten die Soldaten die Möglichkeit, einen «Eidgenoss», ein Militärpferd, zu ersteigern. Ruedi Günthardt packte die Gelegenheit beim Schopf und bewies bei der Pferdewahl ein glückliches Händchen: «Ich sah Atbara schon als sie am Bahnhof aus dem Güterwagen ausstieg und mir war sofort klar, dass ich sie ersteigern wollte.» Das tat er denn auch und erhielt für 1200 Franken den Zuschlag.
Von da an trainierte er, wann immer es sein beruflicher Alltag als nunmehr Geschäftsführer des elterlichen Betriebs es erlaubte. Innert kürzester Zeit entwickelten Atbara und Ruedi sich zu einem respektierten Paar in der Schweizer Military. Die Grundkondition erarbeiteten sich die beiden mit den langen Ritten zu den verschiedenen Trainingsplätzen, das Renntraining absolvierte er mit dem bekannten Rennreiter Heinrich Raschle auf dessen Galoppbahn im zürcherischen Wermatswil: «Wir galoppierten immer Kopf an Kopf, so lernen wir, auch auf langen Galoppstrecken einen guten Rhythmus zu finden.» Für das Spring- und Dressurtraining reiste Ruedi von nun an wöchentlich nach Bern – eine kleine Weltreise damals, denn es gab noch keine Autobahn zwischen Zürich und Bern – um von klingenden Namen wie Henri Chammartin und Gustav Fischer sowie Paul Weier und Hans Möhr zu lernen. «Neben dem Sporttraining zog Atbara auch den Wagen in der Fuhrhalterei, um Kohle auszuliefern, oder am Leichenwagen. Und wir absolvierten gemeinsam die militärischen Wiederholungskurse, wie es ich für einen echten Eidgenoss gehört», erzählt Ruedi Günthardt.
Stolpersteine
Der sportliche Erfolg gab dem ungeheuren Engagement des Küsnachters Recht, und die Teilnahme an einer internationalen Meisterschaft schien 1959 zum Greifen nah. Doch dann passierte es: Atbara verletzte sich bei einem Unfall und musste zwei Monate lang pausieren. «Das war zunächst natürlich eine grosse Enttäuschung. Ich hatte je nur dieses eine Pferd. Aber ich erhielt in dieser Zeit tolle Unterstützung von den Kameraden aus dem Kavallerieverein, die mir bei der Pflege und Therapie von Atbara halfen. Ausserdem kam jeden Abend der Masseur des Fussballclubs in den Stall, um Atbara zu massieren», erinnert sich Ruedi Günthardt.
Nach der Genesung und dem sorgfältigen Aufbautraining geschah, was er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte: Der damals 23-jährige Ruedi Günthardt und Atbara wurden für das Olympia-Team von Rom selektioniert, zusammen mit Hans Schwarzenbach mit Burn Trout, Anton Bühler mit Gay Spark und Rolf Ruff mit Gentleman. «Ich war weitaus der Jüngste und Unerfahrenste im Quartett. Aber meine Vorfreude war riesig!»
Doch der nächste Dämpfer folgte sogleich: Die Offiziersuniform und das Olympia-Privat-Tenue für Rom musste Günthardt als bescheidener Geschäftsmann, der nicht eben auf Rosen gebettet war, zur Hälfte selbst bezahlen. Ein Grossteil seiner Ersparnisse musste er dafür einsetzen – aber seinen Jugendtraum wolle er deswegen nicht platzen lassen, koste es, was es wolle.
Im Zug nach Rom
An die Olympischen Spiele von Rom 1960 reiste die Schweizer Delegation, inklusive der Pferde, mit dem Zug. Den guten Beziehungen von Ruedi Günthardt mit dem Bahnhof-Vorstand von Küsnacht war es zu verdanken, dass die Pferde in einem Direktzug in einem Tag nach Rom reisen konnten. Morgens um 4 Uhr ging es los ab Güterbahnhof Zürich. Im Güterwagen fuhren alle vier Military-Pferde sowie ein Reservepferd und die Springpferde von Paul Weier und Hans Möhr – Centurion und Lausbub. «Es war eine stressige, nicht enden wollende Reise», berichtet Ruedi Günthardt. «Als wir um 23 Uhr endlich in Rom ankamen, hatte sich das Reservepferd verletzt und musste ins Tierspital gebracht werden. Die Spring- und Dressurpferde blieben in den Olympia-Stallungen in Rom, wir reisten mit den Military-Pferde im Militärlastwagen weiter in die Berge nach Pratoni del Vivaro.» Um 2 Uhr in der Früh waren die Pferde geführt, versorgt und in den Boxen untergebracht. Für die Reiter war eine Rückfahrt ins olympische Dorf zu dieser Zeit jedoch nicht mehr möglich. «Wir wickelten uns in Wolldecken und verbrachten die kühle Nacht am Boden vor dem Stall. Am nächsten Morgen waren wir dann alle erkältet, ich hatte Fieber und war zwei Tage ausser Gefecht. Das Training von Atbara übernahm in dieser Zeit der Equipenchef Fred Blaser. Um die Gesundheit der Schweizer Pferde aller Disziplinen kümmerte sich in Rom Joseph Löhrer, seines Zeichens Chef der Kuranstalt in Bern.»
35 Kilometer Gelände-Ritt
Und dann ging es endlich los mit den Wettbewerben. Die Dressurprüfung verlief bei allen Schweizer Reitern nach Wunsch. Die viel grössere Aufgabe war die fast 35 Kilometer lange Geländestrecke mit einer Wegstrecke von rund 7,5 Kilometern (Tempo: 240m/min), einer Rennstrecke mit 12 Hindernissen (Steeple) von etwa 3,5 Kilometern (600m/min), einer zweiten Wegstrecke von zirka 13,5 Kilometern (240m/min), gefolgt von der gut 8 Kilometer langen Cross-Strecke mit 34 Sprüngen (450m/min) und schliesslich der Auslauf-Strecke von knapp 2 Kilometern (330m/min). All diese Abschnitte wurden ohne Pause aneinandergereiht und in rund zwei Stunden absolviert. Eliminiert wurde man nach dem vierten Sturz.
Die Hindernisse, Sprünge, Abrutsche und Gräben im hügeligen Gelände von Prationi del Vivaro waren eindrücklich, nicht nur in ihren Dimensionen, sondern auch in ihrer Bauweise, und stellten Pferde und Reiter vor enorme Herausforderungen. Davon zeugt auch die Bilanz am Ende des Tages: Von 73 Paaren und 19 Team am Start gingen am Ende 35 Reiter und 6 Teams in die Wertung ein.
Auch das Schweizer Team blieb nicht verschont. Während Hans Schwarzenbach mit Burn Trout und Anton Bühler mit Gay Spark überragende fehlerfreie Ritte ablieferten, stürzt Rolf Ruff mit Gentleman am 4-Meter-Graben schwer und schied aus. Somit wusste Ruedi Günthardt schon vor seinem Start, dass sein Ergebnis für die Mannschaftswertung zählen würde: «Da wurden mir schon einen Moment die Knie weich. Aber ich vertraute auf Atbara und wusste, wir waren gut vorbereitet.» Zunächst verlief der Geländeritt gut, doch dann, im Cross am zweitletzten Hindernis, knickte Atbara bei der Landung im abschüssigen Gelände ein, Ruedi Günthardt fiel vom Pferd. «Ich war schlicht am Ende meiner Kräfte. Aber ich wollte weitermachen! Ich stand sofort wieder auf und man half mir in den Sattel, damit ich weiterreiten konnte.» So beendete der junge Reiter das Gelände mit Bravour und hielt die Schweizer Mannschaft im Rennen um die Medaillen.
Silber und Bronze für die Schweiz
Das abschliessende Springen fand tags darauf auf der Piazza di Siena in Rom statt, rund 1,5 Autostunden Fahrt von Pratoni del Vivaro entfernt. Die Pferde wurden am Morgen mit dem Militärlastwagen zum Turnierplatz gefahren, und nach der tierärztlichen Inspektion ging es los.
Hans Schwarzenbach und Burn Trout legten mit einer hervorragenden Runde vor, was für Ruedi Günthardt eine zusätzliche Motivation für seinen Durchgang war: «Ich hatte zwar zwei Stangen-Fehler, aber unsere Zeit war gut!» Als Anton Bühler mit Gay Spark schliesslich ebenfalls fehlerfrei blieb, war die Freude im Schweizer Team riesig!
Am Ende bedeutete dies Silber für die Schweizer Mannschaft hinter Australien und vor Frankreich. Im Einzel konnte sich Anton Bühler die Bronzemedaille umhängen lassen –Gold ging an Laurie Morgan (AUS), Silber an Neale Lavis (AUS).
Die Olympischen Spiele in Rom 1960 sind der bisher grösste Erfolg der Schweizer Eventing-Sports, mit einem Team aus ausschliesslich Amateur-Reitern. Die fantastische Atbara ist der einzige «Eidgenoss», der Dienst geleistet und eine Olympia-Medaille gewonnen hat.
Ruedi Günthard ist heute bald 89 Jahre alt, und das Glänzen in seinen Augen bei den Erinnerungen an Rom 1960 hat sich kein bisschen eingetrübt: «Ich habe in all den Jahren dieses unbeschreibliche Gefühl des Stolzes und des Glücks nie vergessen, als ich zusammen mit meinen Reiter-Kameraden auf dem Sieger-Podest stand und die Schweizerfahne flattern sah. Ich hatte immer eine ganz besondere Verbindung zu Atbara, die mit ihrem ruhigen Wesen, kühlen Kopf und grossen Kampfgeist jede Aufgabe meisterte – ob im Sport, im Militär oder am Wagen. Ich bin unendlich dankbar, dass ich 1960 in Rom diesen Jugendtraum wahrmachen konnte.»