Christina hat Schweissperlen auf der Stirn, das Gesicht vor Anstrengung und Wut gerötet. Seit einer halben Stunde versucht sie verzweifelt, ihr sonst so selbstbewusstes Springpferd Retina dazu zu bringen, den kleinen überbauten Wassergraben zu überspringen. Keine Chance, die Stute auch nur in die Nähe des Hindernisses zu bringen, dabei spiegelt sich die Sonne so schön auf der Wasseroberfläche und das Licht- und Schattenspiel auf dem mit Bäumen gesäumten Sandplatz ist wundervoll an diesem sommerlichen Vormittag. Und noch tags zuvor hat Christina mit ihrer Stute fröhlich im Fluss geplanscht und mit ihrer Freundin darüber gelacht, welche Wasserratte die kleine Retina doch ist. Christina reitet erneut eine Volte, stellt Retina an den Zügel, schliesst die Knie und reitet entschlossen auf den Wassergraben zu. Sekunden später liegt sie im Sand. Retina hat einen Hacken geschlagen und steht nun laut prustend neben ihr, den Kopf gesenkt, den Blick starr auf das Wasser gerichtet. Wie nur kommt Christina aus dieser verzwickten Situation wieder heraus und gibt sowohl dem Pferd als auch sich selbst wieder die Sicherheit, dass der Wassergraben kein gefährliches Loch Ness mit einem verborgenen Ungeheuer unter der Wasseroberfläche ist?
Stand der Wissenschaft
Was wissen wir heute überhaupt über den Sehsinn der Pferde und inwiefern beeinflusst dies unsere Beziehung zum Pferd im Lernprozess? Diesen Fragen ist der Tierarzt und Chef Veterinärdienst der Schweizer Armee Dr. med. vet. Stéphane Montavon in einer wissenschaftlichen Publikation nachgegangen (siehe Kasten). «Die umfassende Kenntnis des visuellen Systems der Pferde ist mit Sicherheit ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg, um ihr Verhalten besser zu verstehen, es richtig zu deuten und entsprechend darauf einzugehen – und zwar unabhängig von der pferdesportlichen Disziplin, die man mit ausübt», erklärt Montavon. Dies sei insbesondere bei der Ausbildung des Pferdes ganz zentral: «Wenn wir das Training optimieren wollen, müssen wir insbesondere dafür sorgen, dass das Pferd die bedeutsamen Signale wahrnimmt und die unbedeutenden Signale ignoriert. Dabei können wir uns unser Wissen um die Besonderheiten des visuellen Systems der Pferde zunutze machen, um die Reize so zu setzen, dass sie vom Pferd auch möglichst gut wahrgenommen werden.»
Das Blickfeld des Flucht- und Steppentiers
Das Auge des Pferdes ist perfekt an die Bedürfnisse des Flucht- und Steppentiers angepasst. In der freien Wildbahn leben sie in Herden und verbringen die meiste Zeit damit, in der kargen Landschaft zu grasen und dabei den Horizont nach potenziellen Angreifern abzusuchen. So ist das Pferdeauge dem menschlichen Auge anatomisch zwar sehr ähnlich, weist aber einige Besonderheiten auf, die diesen Lebensumständen angepasst sind.
Anders als beim Menschen sind die Augen des Pferdes seitlich des Kopfes angebracht und die Pupille ist nicht wie beim Menschen rund, sondern queroval. Diese anatomischen Gegebenheiten ermöglichen dem Pferd eine optimale Sicht auf ihre Umwelt, während sie in tiefer Kopfhaltung grasen. Sie verfügen über einen fast vollständigen Rundumblick, ohne dass sie ihren Kopf bewegen. Ihre Augen nehmen Bewegungen besonders gut wahr, was für ein Flucht- und Beutetier überlebenswichtig ist.
Der grösste Teil des Blickfeldes des Pferdes wird nur mit jeweils einem Auge wahrgenommen, unscharf und auf Bewegungen sensibilisiert. Einzig im Bereich direkt vor der Stirn überschneiden sich die Blickfelder der beiden Augen – nur hier, in einem Feld von rund 60 Grad, sieht das Pferd wirklich scharf und dreidimensional wie wir Menschen. Direkt unterhalb, also unterhalb der Nüster, befindet sich hingegen ein toter Winkel, ein Bereich also, in dem die Pferde nichts sehen. In der freien Wildbahn macht das durchaus Sinn: Beim Grasen sehen sie ihr nahes Gesichtsumfeld scharf, haben hier eine gute Tiefen- und Distanzwahrnehmung. Die weitere Umgebung sehen sie zwar unscharf, nehmen aber Bewegungen rasch wahr, können dann den Kopf heben, um den «verdächtigen Bereich» scharf zu stellen, und haben dann noch Zeit, um gegebenenfalls zu fliehen.
Was bedeutet dies nun aber für das Training und den sportlichen Einsatz der Pferde? Stéphane Montavon nennt zwei Beispiele: «Wenn ein Pferd einen Abreitplatz betritt, wo es zum ersten Mal ihm fremde Pferde sieht und es insbesondere auch den Ort nicht kennt, wird es seinen Kopf bewegen wollen, um seine Sehschärfe zu verbessern und die anderen ihm bekannten oder unbekannten Pferde zu erkennen. Auch wenn ein Pferd sich einem Sprung nähert und sich auf die Art, Höhe und Breite eines Hindernisses konzentrieren muss, braucht es eine gewisse Freiheit in der Kopfhaltung, um die Merkmale eines Sprungs besser zu erfassen.»
Licht und Schatten
Pferde beschäftigen sich insbesondere in der Morgendämmerung und beim Einnachten intensiv mit der Futtersuche. Weshalb das so ist, hat mit der Lichtempfindlichkeit des Pferdeauges zu tun. Das Auge – beim Menschen genauso wie beim Pferd – besteht aus zwei Typen von Sinneszellen, den sogenannten Zapfen und Stäbchen. Sie reagieren unterschiedlich auf Lichteinflüsse: Zapfen funktionieren sehr gut bei hellen Lichtverhältnissen und liefern dann genaue Informationen zu Farben und Details. Stäbchen sind hingegen verantwortlich für die Sicht, wenn auch unscharf, bei geringer Helligkeit.
Das Auge von Pferden verfügt über viele Stäbchen, weshalb sie über eine gute Nachtsicht verfügen, jedoch weniger scharf sehen als wir Menschen. Ausserdem befindet sich im Pferdeauge eine besondere Membran, die Licht reflektiert, was wiederum die Sicht bei schlechten Lichtverhältnissen verbessert. Den Effekt dieser Membran sieht man beispielsweise auf Blitzlicht-Fotografien von Pferden, wenn deren Augen gespenstisch weiss leuchten. Besonders sensibel reagiert das Pferdeauge auf Licht, das vom Boden her reflektiert wird. Im Gegensatz dazu ist das menschliche Auge von Zapfen dominiert. Wir sehen also besonders gut und in einer bunten Farbpalette, wenn es hell ist, unsere Nachtsicht ist hingegen schlechter als jene des Pferdes.
Dem nächsten nächtlichen Ausritt steht also nichts im Weg. Eines gilt es aber noch zu beachten, wie Stéphane Montavon betont: «Die Anpassungszeit, die ein Pferd braucht, um von einem sehr hellen in einen dunkleren Bereich zu wechseln, dauert etwa 90 Sekunden. Erst nach dieser Zeit ist die Sehschärfe des Pferdeauges wieder voll funktionsfähig. Die gleiche Zeit wird benötigt, um in die umgekehrte Situation – also vom Dunkeln ins Helle – zu wechseln.» Denken wir also daran, dass es für die Pferde sehr unangenehm sein kann, wenn man abends spät oder morgens früh das Deckenlicht im Stall einschaltet. Auch Wechsel beispielsweise vom Abreiteplatz in der düsteren Reithalle auf den Turnierplatz im grellen Sonnenschein, oder das Verladen am helllichten Tag in einen dunklen Pferdetransporter kann den Pferden durchaus grössere Schwierigkeiten bereiten und ihre Sehfähigkeit länger beeinträchtigen als bei uns Menschen.
Eingeschränkte Farbsicht
Aufgrund der Dominanz der Stäbchen im Auge des Pferdes ist davon auszugehen, dass sie Farben weniger gut sehen als wir Menschen, dafür umso sensibler auf Kontraste und auf Bewegungen und Lichtimpulse in ihrem seitlichen Gesichtsfeld reagieren. Dennoch sind Pferde durchaus in der Lage, Farben zu erkennen und zu unterscheiden, jedoch deutlich weniger gut als wir Menschen. Pferde sind sogenannte Dichromaten, haben also zwei Arten von Farbrezeptoren im Auge – bei uns Menschen sind es drei, wir sind also Trichromaten. Die Welt der Pferde bewegt sich zwischen Gelb- und Blautönen, wobei diese nicht so grell wahrgenommen werden wie der Mensch sie sieht. Grün, Gelb und Orange sehen für Pferde immer gleich aus, unterscheiden sich nur durch etwas mehr oder weniger Kontrast. Diese Farbpalette können sie von Rot und den verschiedenen Blau- und Purpurtönen unterscheiden – ebenfalls eher als Kontrast, denn als Farbe. Blau-Grün wird als Weiss wahrgenommen.
Studien haben gezeigt, dass Pferde Gelb besser wahrnehmen als Blau, sie also bei einem dünneren Strich in Gelb einen Kontrast zum Hintergrund erkennen können, als dies bei einem Strich in Blau der Fall ist, der dicker sein muss, bis Pferde ihn sehen.
Was bedeutet dies für den Alltag? Stéphane Montavon gibt ein paar Tipps: «Weidezäune sollten im Idealfall in hellen Farben gehalten sein, damit Pferde sie besser sehen, insbesondere auch wenn sie in Panik geraten. Beim Bau von Hindernissen wissen die Parcourschefs um den hohen Kontrastbedarf der Stangen, die sie verwenden. Stangen sollten am besten abwechselnd farbig und weiss sein, denn einfarbige Stangen sind für Pferde schwieriger zu beurteilen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass einfarbige dunkelgrüne und dunkelrote Stangen schwer zu überspringen sind. Gelbe und orangefarbene einfarbige Stangen sind dagegen sehr gut zu springen.»
Sehvermögen im Training berücksichtigen
Zurück zu Christina und Retina. Eine Trainerin, die die verzwickte Situation aus der Ferne beobachtet hat, kommt zum Paddock gelaufen, klopft der entmutigten Reiterin den Sand vom Rücken und rät ihr, das Pferd am langen Zügel am Hindernis entlangzuführen, sodass es den Kopf in tiefer Haltung nach Bedarf heben und senken kann, um das Wasser zu inspizieren. Einmal zur einen Seite, einmal zur anderen, damit beide Augen die nötigen Informationen erhalten und auch der scharfe und dreidimensionale Sichtbereich vor der Stirnlinie genutzt werden kann. Gesagt, getan. Nun ziehen auch ein paar Wolken auf und tauchen den Springplatz in weicheres Licht. Christina sitzt wieder auf und reitet auf Anweisung der Trainerin nochmals im Galopp seitlich am Hindernis vorbei, nimmt erneut Anlauf, lässt Retina aber etwas Kopffreiheit, damit sie die Höhe und Tiefe des Hindernisses durch leichte Kopfbewegungen besser einschätzen kann. Problemlos und ohne zu zögern überwindet die Stute nun das Hindernis. Christina belohnt sie mit freundlichen Worten und beendet das Training mit diesem Erfolgserlebnis. Dank den Erklärungen der Trainerin weiss sie nun, wie sie auch in Zukunft konfliktfrei auf eine solche Situation reagieren oder sie gar nicht erst entstehen lassen kann.
Bei der Ausbildung von Pferden dürfen wir uns also nicht auf unsere menschliche Sicht verlassen, um einzuschätzen, wie unsere vierbeinigen Freunde die Welt wahrnehmen. Wenn unser Sportpartner das nächste Mal ein «Gespenst» sieht, sollten wir mit Verständnis darauf reagieren und uns in seine Sichtweise hineinversetzen. Damit wird nicht zuletzt auch das Vertrauen des Pferdes in seinen Menschen gestärkt, und es wird sich künftig in einer furchterregenden Situation eher auf das Urteil des Zweibeiners verlassen.
Wissenschaftliche Publikation
MONTAVON, Stéphane: Equine Vision – a review of current knowledge and how it affects our relationship with the horse in terms of learning. In: Swiss Review of Military and Disaster Medicine, 1/2023.